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Wie ML die Bildung von Eis simuliert

Wie wird Wasser zu Eis? Das Verständnis dieses Vorgangs war lange Zeit begrenzt, weil er für das menschliche Auge nicht gut sichtbar war. Nun ist es Pablo Piaggi und seinem Team von der Princeton University gelungen, den Prozess am Computer so genau wie nie zuvor zu simulieren. Ein Gespräch über Machine-Learning-Simulationen und wie diese Lebensmittelverarbeitung und Klimamodelle verbessern könnten.
MIT PABLO PIAGGI SPRACH ELIANE EISENRING
Herr Piaggi, Ihnen ist es gelungen, mit Hilfe eines Machine-Learning-Algorithmus die "Nukleation von Eis" zu simulieren. Was genau verbirgt sich hinter diesem Begriff?
Die Nukleation von Eis oder auch Eiskeimbildung ist das Anfangsstadium des Gefrierens von Wasser. Zuerst bewegen sich die Wassermoleküle relativ frei, doch irgendwann beginnen sie stärker zu interagieren und bilden ein Netzwerk – Eis. Sobald der Eisklumpen gebildet ist, wächst er. Aber der Prozess, der am Anfang steht, nennt sich Nukleation, und genau das konnten wir simulieren.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Machine Learning für diese Art von Simulation zu verwenden?
Die Idee dafür existiert schon seit etwa 15 Jahren. Richtig in Schwung kam sie jedoch erst vor etwa 3 oder 4 Jahren, als verschiedene Softwareentwicklungen, wie z. B. Bibliotheken von Google und Meta, die erforderlichen Tools für Machine Learning (ML) leichter zugänglich machten. Ausserdem verfügen wir erst jetzt über ausreichend schnelle Hardware für diese Art von Algorithmen.
Diese beiden Faktoren zusammen waren eine echte Revolution, und viele Forschende, die Molekularsimulationen durchführen, beginnen nun, ML-Modelle zu verwenden. Vor einigen Jahren habe ich ein Projekt geschrieben, in dem es darum ging, die Eiskeimbildung zum ersten Mal mit Quantengenauigkeit zu simulieren. Dann kam ich nach Princeton, weil man hier eine Softwarebibliothek für diese Art von Algorithmen entwickelt hatte.
Und warum haben Sie sich gerade dafür entschieden, die Keimbildung von Eis zu simulieren und nicht die einer anderen Substanz?
Nun, zunächst einmal ist Wasser eine der häufigsten Substanzen auf unserem Planeten. Die Bildung von Eis beeinflusst also viele Prozesse, mit denen wir täglich zu tun haben – Dinge wie Niederschlag und alles, was mit dem Wasserkreislauf zu tun hat. Darüber hinaus ist Wasser ein interessanter Untersuchungsgegenstand, weil es ein gewisses anormales Verhalten zeigt. Und schliesslich gibt es hier in Princeton mehrere Fakultätsmitglieder, die sich im Laufe ihrer Karriere mit Wasser und Eis beschäftigt haben.
Wie genau funktioniert die Simulierung mithilfe von Machine Learning? Und was ist der konkrete Nutzen dieses Ansatzes?
Zunächst mussten wir die interatomaren Kräfte zwischen den Atomen und Molekülen ermitteln. Das sind die Grössen, welche die Dynamik antreiben. Diese Kräfte wurden aus grundlegenden Prinzipien abgeleitet, das heisst aus dem Verhalten der Elektronen. Danach trainierten wir ein ML-Modell, das die Kräfte, die auf jedes Atom wirken, anhand der Positionen der Nachbaratome erlernte. Mit diesem Modell konnten wir dann die Dynamik steuern und die Eisbildung simulieren.
Der grosse Vorteil eines ML-Modells besteht darin, dass es viel kostengünstiger ist, als wenn man die Gleichungen direkt auf dem Computer lösen müsste – was wir für ein paar tausend kleine Konfigurationen tun mussten, um die Trainingsdaten für das Modell zu erstellen. Sobald wir ein gut trainiertes Modell haben, können wir viel grössere Systeme untersuchen und über einen längeren Zeitraum hinweg simulieren.
WIE BRINGT MACHINE LEARNING DIE WISSENSCHAFT AUCH NOCH VORAN?
Indem es verhindert, dass Satelliten mit Weltraumschrott kollidieren.
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Grössere Systeme und ein längerer Zeitraum, sagen Sie – aber findet die Keimbildung nicht sehr schnell und in einer sehr kleinen Grössenordnung statt?
(Lacht) Sie haben Recht! Die Grösse der Systeme, die man simulieren kann, liegt bei einigen Zehnteln Nanometern – eine Milliarde Mal weniger als ein Meter – was wirklich klein ist. Allerdings bestehen die Systeme immer noch aus etwa 300.000 Atomen. Die Zeit ist in der Tat auch recht kurz, nur einige Zehntel-Nanosekunden – eine Milliarde Mal weniger als eine Sekunde. Dennoch ist die Dauer tausendmal länger als das, was wir bisher simulieren konnten. Es ist also sehr bedeutsam.
Können Sie genauer erklären, was an Ihrem Ansatz so bahnbrechend ist?
Wir sind zwar nicht die ersten, die die Keimbildung von Eis simulieren, aber wir haben es zum ersten Mal geschafft, dies mit Hilfe von Machine Learning (genauer gesagt einem Deep Neural Network) und so genannten First-Principles-Berechnungen zu tun. Auf diese Weise konnten wir eine sehr hohe Genauigkeit erreichen, die in der Tat bahnbrechend ist: Bislang galt die Simulation der Eisbildung mit Quantengenauigkeit aufgrund des enormen Rechenaufwands quantenmechanischer Berechnungen als unmöglich. Indem man ein ML-Modell die Berechnungen durchführen lässt, können diese Kosten erheblich gesenkt werden.
Da unsere Vorhersagen von grundlegenden Prinzipien abgeleitet sind, muss man ausserdem nichts über das Verhalten einer Substanz in der realen Welt wissen. Das gilt für den von uns untersuchten Stoff (Eis), aber die Methode kann auch auf andere Stoffe angewandt werden und erzielt in vielen Fällen eine genauso qualitative Vorhersage.
Bislang galt die Simulation der Eisbildung mit Quantengenauigkeit aufgrund des enormen Rechenaufwands quantenmechanischer Berechnungen als unmöglich. Indem man ein ML-Modell die Berechnungen durchführen lässt, können diese Kosten erheblich gesenkt werden.
Berechnungen nach grundlegenden Prinzipien – was genau meinen Sie damit?
Grundlegende Prinzipien bezeichnen in der Physik fundamentale Naturgesetze, die nicht weiter aufgeschlüsselt oder bewiesen werden müssen. Ausgehend von diesen haben wir mehrere Eigenschaften berechnet, die mit dem Phänomen der Keimbildung zusammenhängen. Insbesondere interessierten wir uns für eine Eigenschaft namens "Nukleationsrate" – die Geschwindigkeit, mit der sich ein Eisklumpen bildet. Diese Eigenschaft kann experimentell gemessen werden, so dass wir unsere Vorhersagen direkt mit Experimenten vergleichen konnten. Die Möglichkeit, diese Eigenschaft nicht nur mit dem Computer vorherzusagen, sondern sie auch mithilfe grundlegender Prinzipien zu berechnen, war sehr spannend.
Warum lässt sich das Phänomen nicht direkt im Experiment beobachten?
Wie wir bereits besprochen haben, findet die Keimbildung in sehr kurzer Zeit und in einer Grösse von nur Nanometern statt. Das bedeutet, dass es in einem Experiment sehr schwierig ist, mit blossem Auge zu sehen, was während des eigentlichen Prozesses vor sich geht. Daher sind Simulationen in diesem Zusammenhang sehr beliebt: Sie geben einzigartige Einblicke in molekulare Mechanismen – das gilt ganz allgemein für die Untersuchung von Kristallisation und Keimbildung.
Abbildung 1: Simulation eines Eisclusters, der von flüssigem Wasser umgeben ist, gesteuert durch das Machine-Learning-Modell. Wassermoleküle werden als undurchsichtig dargestellt, wenn sie eine eisartige atomare Umgebung haben, und als halbtransparent, wenn sie eine flüssigkeitsartige atomare Umgebung haben. Wassermoleküle bestehen aus einem Sauerstoffatom (rot) und zwei Wasserstoffatomen (weiss).
Jetzt, da man die Keimbildung von Eis mit Quantengenauigkeit simulieren kann – was nützt uns das?
Es gibt 3 Hauptbereiche, die davon profitieren können. Erstens die Kryo-Konservierung – die Idee, dass man lebende Zellen und Gewebe durch schnelles Abkühlen der Probe konservieren kann. Zu verstehen, wie sich Eis in diesem Zusammenhang bildet, könnte einen technologischen Vorteil bringen. Zweitens die Lebensmittelverarbeitung, denn Lebensmittel werden für den Vertrieb häufig eingefroren. Darüber hinaus könnte das Wissen über die Eisbildung Klimamodelle verbessern, vor allem wenn wir erst einmal in der Lage sind zu simulieren, wie sich Eis in der Atmosphäre bildet.
Wie wollen Sie das erreichen?
Wir versuchen derzeit zu verstehen, wie sich Eis in realistischeren Umgebungen bildet. Bisher haben wir nur untersucht, wie Eis in reinem Wasser entsteht, aber in der Natur kommt es auch vor, dass dies z. B. an der Oberfläche von Partikeln passiert. Es wird angenommen, dass dies eine entscheidende Rolle bei der Bildung von Eis in der Atmosphäre unseres Planeten spielt. Und wir könnten genau die gleiche Methode anwenden, die wir zur Simulation der Eisbildung in Wasser verwendet haben.
Was ist also der nächste Schritt?
Wir haben soeben herausgefunden, welche Teilchen grösstenteils für die Bildung von Eis in der Atmosphäre verantwortlich sind. Es handelt sich um ein Mineral namens Feldspat, das in der Erdkruste sehr häufig vorkommt. Und wir untersuchen nun, wie sich Eis an diesen Oberflächen bildet. Wie aufregend wäre es, das Geheimnis zu lüften, wie Eis in der Atmosphäre entsteht!
Zur Person
Pablo Piaggi (*1990) ist derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Chemie an der Princeton University. Er promovierte 2019 in Materialwissenschaft und -technik an der EPFL (Schweiz). Piaggi erhielt ein Postdoktoranden-Mobilitätsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds, das ihn nach Princeton brachte. Für seine Arbeit über den Einsatz fortschrittlicher Simulationsmethoden zur Vorhersage der Kristallstruktur von Materialien wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem IBM Research Award 2021.