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NFTs - Ich habe was, was ich nicht hab‘

Mit Non-Fungible Tokens (NFTs) eröffnet sich gerade eine ganze Welt neuer Möglichkeiten. Wie wäre es zum Beispiel, wenn man die Zeichnung seines Kindes online verkaufen könnte, während sie gleichzeitig am Kühlschrank hängen bleibt? Eine schriftliche Einladung zum Weiterdenken ... und Träumen.
von Strigalt von Entf*

Sie kennen das Problem, verehrte Leserinnen und Leser: Sie würden gerne Ingres Meisterwerk „Die große Odaliske“ besitzen. Doch ach, sie will nicht so recht in das Wohnzimmer passen, auf dem Flur ist die Beleuchtung unzureichend, der cerleanfarbene Vorhang des Gemäldes passt nicht zur lapisfarbenen Lieblingstischdecke, ja und überhaupt soll das durchaus anregende Werk auch weiterhin dem staunenden Antlitz der breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Verzweifeln Sie nicht, denn für dieses Problem gibt es in der technisierten Welt eine einfache Lösung: NFTs!
NFTs, oder falls Sie nicht in Eile sind: Non-Fungible Tokens, ermöglichen es gemeinen Computerbesitzer*innen, ein bestimmtes Werk ihr Eigen zu nennen, ohne es zu diesem Zwecke tatsächlich besitzen zu müssen. So könnten Sie, kunstverliebte Mitlesende, also die von Ingres so freizügig inszenierte Rückenansicht erwerben, es könnte aber dennoch einfach dort hängen bleiben, wo es auch vor anderen lusterfüllten Augen nicht sicher ist.
Zugegeben, bislang wird dieses blockchainbasierte Wunder hauptsächlich dazu verwendet, belanglose Bilddateien und ähnliches binäres Treibgut im Meer des World Wide Web einem Besitzer zuzuordnen. Auch das liefert charmante Optionen: Anstatt den Archivdatenmüll radikal in den Orkus des digitalen Papierkorbs zu verbannen, bieten Sie die alten Schätze einfach auf einem digitalen Flohmarkt an. Ihre alten Urlaubsfotos kopieren? Uninteressant. Dank NFTs wird das Werk „großer Zeh vor unscharfem Sonnenuntergang“ aber zu einem kostbaren Einzelstück mit Sammlerwert.
Zugegeben, bislang wird dieses blockchainbasierte Wunder hauptsächlich dazu verwendet, belanglose Bilddateien und ähnliches binäres Treibgut im Meer des World Wide Web einem Besitzer zuzuordnen.
Visionär, wie ich Sie, verehrte Informationsbegierige, einschätze, denken Sie alle längst einen Schritt weiter: Warum muss es beim Handel von digitalen Objekten bleiben? Erweitert auf die physische Welt spinnen sich ungeahnte Möglichkeiten.
Eine der interessanten Merkwürdigkeiten des NFT-Handels besteht in der Tatsache, dass es keinen einheitlichen Markt gibt. So vielfältig wie die Haare der Medusa aus ihrem einen Kopf entspringend wuchern die diversen Blockchainprojekte, von denen jedes einen eigenen Markt – und somit unabhängig voneinander eigene Besitzer*innen des gleichen Werkes definiert. Mit nur wenig Fantasie dürfte ganz eingefleischten Marxist*innen hier das Herz warm werden: Wir brauchen nur so viele Blockchains wie Menschen, und schon könnten alle Erdenbewohner*innen gleichzeitig Besitzer*in von allen Dingen sein. Der Traum vom Kommunismus – noch nie war er digital so real!
Nun gut, für das praktische Leben mag dies neue Probleme mit sich bringen: Es mag bezaubern, dass wir alle in unserer Blockchain als Eigentümer des eleganten Jaguar vor Nachbars Haustür gelten – aber wer darf ihn durch die Realität fahren? Nein, man müsste sich also global auf ein System einigen, so wie VHS sich im epischen Kampf gegen Betamax durchgesetzt hat. Schon könnten Sie die kostbaren Pinselstriche Ihres ganz offensichtlich hochbegabten Sohnes an kunstliebhabende Menschen auf der ganzen Welt verkaufen und sie dennoch an Ihrem Kühlschrank hängen lassen. Ein für alle Mal kann Familie Wüthrich regeln, welche Lieblingsteetasse welchem Mitglied gehört.
Noch kann man sich selbst am Eintrag eines NFTs erfreuen, während der Rest der Welt diesen ignorieren kann, wie Agamemnon die Warnungen der Kassandra.
Ich spüre bereits beim Schreiben dieser Worte die schiere Begeisterung, die Sie beim Lesen ereilen dürfte, doch das Beste kommt ja noch: Neben der Einmaligkeit gewähren NFTs auch die Unverfälschbarkeit digitaler Informationen. Zeugnisse können so digital ohne aufwendige beglaubigte Kopie weitergegeben werden. Noch besser aber: Das originale Nudelsuppenrezept von Großmutter Annegret kann fälschungssicher im Netz feilgeboten werden, ohne dass die Gefahr besteht, dass eine kulinarisch verirrte Seele den französischen Estragon durch gewöhnlichen ersetzt. Ein Menetekel, das sonst an Oma kleben würde, verpufft in Wohlgefallen.
Noch hat die Menschheit den Olymp der einheitlichen Blockchain noch nicht erklommen. Bevor Sie aber vor Ungeduld, wann es endlich so weit ist, mit den Hufen scharren, lassen Sie mich auch den Vorteil im Rückstand sehen: Noch kann man sich selbst am Eintrag eines NFTs erfreuen, während der Rest der Welt diesen ignorieren kann, wie Agamemnon die Warnungen der Kassandra. Wenn man nun nicht nur an Besitz im eigentlichen Sinne denken würde… nun ja… bitte verstehen Sie… das Folgende fällt sogar einem Vokalhelden wie mir schwer… stellen Sie sich vor, ein nicht näher benannter, wortgewandter Kolumnist könnte sich eine Ehe mit der wunderbaren, bezaubernden Aida Garifullina in eine unbekannte Blockchain eintragen lassen… es müsste die liebreizende Grazie ja gar nicht kümmern, doch der Kolumnist würde eine kurze Verheißung des Paradieses erfahren.
Verliebt…ich meine: verehrt
Strigalt von Entf
Zum Format
*Unser Format "Feuill-IT-ong" entsteht in Zusammenarbeit mit den freien Autoren Tobias Lauterbach und Daniel Al-Kabbani, die mitunter für die Satire-Plattform "Der Postillon" engagiert sind. Sie berichten unter dem Pseudonym Strigalt von Entf über aktuelle Geschehnisse aus der Welt der Technologie - natürlich immer mit einem Augenzwinkern! ;-)