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Mit KI gegen Missstände in der Medienwelt

Frauen sind in der Medienberichterstattung weltweit unterrepräsentiert. Katia Murmann, eine der Gründerinnen der Initiative EqualVoice, hat einen Algorithmus entwickelt, der die Präsenz von Frauen in Texten und Bildern von News-Medien misst. Ein Gespräch über die Rolle der Medien bei der Schaffung gesellschaftlicher Vorbilder und warum auch der US-Präsident bei der Berechnung des EqualVoice-Faktors berücksichtigt wird.
MIT KATIA MURMANN SPRACH OLIVER BOSSE
Frauen sind in der Medienberichterstattung weltweit untervertreten. Im Rahmen der Initiative EqualVoice begegnet Ringier diesem Missstand seit 2019 mit einem Algorithmus. Wie kam die Idee, die Gleichstellung durch Technologie voranzutreiben?
Der Ausgangspunkt für EqualVoice war bei uns die Erkenntnis, dass Frauen in der Berichterstattung deutlich weniger sichtbar sind als Männer. Die Datenlage gab uns recht: Laut dem Global Media Monitoring Project (GMMP) 2016 handelten 82 % der Medienberichte weltweit von Männern. Darum wollten wir wissen: Wo stehen wir, nicht nur in der Schweiz – sondern auch konkret in unseren Medien. Da Technologie ein wichtiger Teil von Ringier ist, haben wir unsere Datenspezialisten hinzugezogen – und mit ihnen gemeinsam eine Lösung gefunden, die uns die Zahlen für unsere Publikationen täglich zur Verfügung stellt. Der «EqualVoice-Factor» ist heute ein wichtiges Instrument, das die tägliche Sichtbarkeit von Frauen in unseren Medien dokumentiert.
Warum ist die Gleichstellung von Frauen in Medien Ihrer Meinung nach wichtig?
Medien haben eine gesellschaftliche Verantwortung. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Schaffung von Rollenbildern – und sollten deshalb nicht nur den männlichen Teil der Bevölkerung sichtbar machen, sondern auch die anderen 50%. Mit EqualVoice erhöhen wir gezielt die Sichtbarkeit von Frauen in den Medien, schaffen mehr weibliche Vorbilder und geben Frauen und Männern die gleiche Stimme. Uns ist es wichtig, Gender-Stereotypen aufzubrechen. So wollen wir nicht nur mehr Frauen in unseren Publikationen zeigen, sondern auch Männer in unterschiedlichen Rollen: als Väter, Kindergärtner oder in der Pflege.
Mit EqualVoice erhöhen wir gezielt die Sichtbarkeit von Frauen in den Medien, schaffen mehr weibliche Vorbilder und geben Frauen und Männern die gleiche Stimme.
Der semantische Algorithmus misst automatisiert, wie oft Frauen in Publikationen genannt werden sowie auf Bildern vorkommen. Könnten Sie die Funktionsweise genauer erläutern? Ist er darauf trainiert, Namen und Bilder von Frauen zu erkennen?
Der Algorithmus basiert auf einem Modell zur Verarbeitung von Sprache (Named Entity Recognition), das Geschlechtertypen in verschiedenen Arten von Inhalten identifiziert. Er arbeitet vollautomatisch und kann unabhängig von Sprache, Branche oder Format eingesetzt werden. Wir nutzen ihn, um Text, Bild und seit diesem Jahr auch Video-Inhalte zu analysieren. Die ETH Zürich hat den EqualVoice-Factor wissenschaftlich evaluiert – damit hat also eine unabhängige Drittstelle überprüft, dass der EqualVoice-Factor richtig misst und die richtigen Daten ohne Bias analysiert.
Geht es bei EqualVoice nur darum, wie oft Frauen in Ihren Medienprodukten vorkommen, oder auch auf welche Art über Sie berichtet wird?
Die Daten aus dem EqualVoice-Factor sind die Basis. Sie zeigen uns auf, wie viel wir über Frauen berichten. Aber natürlich ist es auch sehr wichtig zu sehen, wie über Frauen berichtet wird. Hier haben wir den EqualVoice-Frame entwickelt. Da geht es um Bilder, Kontext, Wortwahl aber auch das Layout unserer Publikationen. Gender-Stereotypen betreffen aber nicht nur Frauen – auch Männer sind davon betroffen.
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Soweit ich weiss, leistet Ringier damit Pionierarbeit. Welche Herausforderung stellten sich bei der Entwicklung des Algorithmus und der Erhebung der Datengrundlage?
Die Erhebung der Datengrundlage war für uns zum Glück relativ einfach, da wir bei Ringier über ein sehr gutes, eigens entwickeltes Daten-Tool verfügen: Alle publizierten Artikel können laufend analysiert werden. Wie wir bei EqualVoice zählen, darüber gab es gute und wichtige Diskussionen. Zum Beispiel: Ist der amerikanische Präsident ein Mann, können unsere Journalist*innen dies nicht beeinflussen. Soll er trotzdem zum EqualVoice-Factor gezählt werden? Wir waren uns schnell einig: Ja, soll er. Denn dies ist die Realität! Wichtig für uns ist, dass die quantitativen Daten für die Redaktionen einfach zur Verfügung stehen und sie diese nicht manuell auszählen müssen. So haben sie mehr Zeit für Diskussionen zu EqualVoice-Fragen im Redaktionsalltag.
Der Algorithmus gibt den „EqualVoice-Factor“ an, also eine Kennzahl dazu, wie die Verteilung von Männern und Frauen in der Berichterstattung ist. Wie hat sich dieser seit der Einführung insgesamt über alle Ringier-Titel verändert?
Seit dem Start von EqualVoice im Jahr 2019 haben wir dafür sorgen können, dass insgesamt mehr Frauen in der Berichterstattung zu Wort kommen. Die jüngste Messung des GMMP, die im September 2021 veröffentlicht wurde, verzeichnet einen Anstieg des Frauenanteils in der Schweizer Medienberichterstattung um drei Prozentpunkte auf 28 Prozent. Die Studie, deren Ansatz auf einer jährlichen Auszählung des Frauenanteils beruht, hebt Blick.ch mit 49 Prozent auf den ersten Platz als Schweizer Medium mit dem höchsten Frauenanteil in der Berichterstattung.
Vor allem die Wirtschaftsmedien von Ringier Axel Springer Schweiz berichten im Vergleich zum Vorjahr deutlich mehr über Frauen. Im gesamten vierjährigen Auswertungszeitraum stieg der EqualVoice-Factor Body Score von Bilanz und Handelszeitung jeweils um mehr als 10 Prozentpunkte, gefolgt von Beobachter mit einem Plus von 8,6 Prozentpunkten. Und das Schöne ist: Da wir mehr über Frauen berichten, lesen auch mehr Frauen unsere Publikationen.
In der Vergangenheit wurden oft die gleichen, männlichen Experten zu bestimmten Themen befragt. Das haben wir mit EqualVoice bewusst geändert. Wir suchen gezielt nach Expertinnen für bestimmte Themen und haben eine Expertinnenliste mit über 400 Personen aufgebaut.
Was ist die Zielsetzung? Welchen „EqualVoice-Factor“ will Ringier in den nächsten Jahren erreichen?
Jede Publikation setzt sich ihre eigenen Ziele. Beispielsweise hat sich die Handelszeitung im ersten Jahr als Ziel gesetzt, mindestens 25% EqualVoice-Factor zu haben. Dies entspricht dem Anteil Frauen in Schweizer Führungspositionen – wir wollen zumindest die Realität abbilden.
Michael Ringier beschreibt die Initiative als „Chance, neue und spannende Gesichter zu entdecken“ – wie kann man das verstehen?
Tatsächlich als grosse Möglichkeit! Im Redaktionsalltag, wo oft zu wenig Zeit ist, wurden in der Vergangenheit oft immer die gleichen, männlichen Experten zu bestimmten Themen befragt. Das haben wir mit EqualVoice bewusst geändert. Wir suchen gezielt nach Expertinnen für bestimmte Themen, haben eine Expertinnenliste mit über 400 Personen aufgebaut – und konnten so neue, spannende Gesichter entdecken und die Vielfalt der Perspektiven und Stimmen erhöhen.
Inwieweit ist Ringier Vorreiter für andere Medienhäuser? Gibt es Interessenten an ihrer Technologie?
Im Rahmen des EqualVoice-Summit im Mai dieses Jahres konnten wir nicht nur hochkarätige Gäste wie Amal Clooney und Amy MacDonald in Zürich begrüssen, sondern auch die Expansion unser Initiative auf ein globales Level feiern. Die Axel Springer SE integriert EqualVoice in ihren News Media Marken. Den Anfang macht dabei die «BZ». Weitere Medien folgen.
FRAUEN IN DER BUSINESS-WELT
Nicht nur in den Medien, auch in vielen Berufsfeldern sind Frauen nach wie vor unterrepräsentiert. Dies gilt umso mehr, je weiter man auf der Karriereleiter nach oben blickt. Es gibt jedoch weibliche Führungskräfte, die die Geschäftswelt umgestalten, zum Beispiel im Bereich der Biowissenschaften und des Gesundheitswesens.
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Wird der Algorithmus noch weiterentwickelt, etwa auf Transgender, non-binäre Personen, etc.?
Wir haben die Initiative bewusst EqualVoice genannt und nicht FemaleVoice. Wir merken, dass durch die Diskussion über Gender Equality in den Newsrooms spannende Diskussionen über andere Diversitätsdimensionen entstehen. Aktuell sind wir aber der Meinung, dass wir erst bei der Gleichstellung von Frauen und Männern noch weitere Fortschritte machen müssen, bevor wir uns auf weitere Diversitätsdimensionen konzentrieren.
Was ist Ihre langfristige Vision mit „EqualVoice“ – wohin soll die Reise gehen?
Nachdem wir EqualVoice erfolgreich in den Ringier-Marken etabliert haben, wollen wir den nächsten Schritt machen: EqualVoice auf eine globale Ebene bringen. Ziel ist es, die Medienbranche über die Schweiz hinaus für das Thema Gleichstellung zu sensibilisieren und zu vereinen – und mit dem EqualVoice Factor einen validierten Mess-Standard für die Sichtbarkeit von Frauen zu etablieren.
Zur Person
Katia Murmann Amirhosseini (*1980) ist eine schweizerisch-deutsche Journalistin. Sie ist Chefredaktorin des Schweizer Medienportals blick.ch sowie Leiterin Digital und Mitglied der Geschäftsleitung der Blick-Gruppe. Seit März 2020 ist sie zudem Verwaltungsratspräsidentin der Schweizer Mediendatenbank SMD/swissdox. Sie verlässt Ringier per 1. August, bleibt dem Medienunternehmen in verschiedenen Projekten verbunden – darunter EqualVoice. Fortan konzentriert sie sich auf den Ausbau ihrer Mandate.
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