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Der einsame Kampf gegen Cybergewalt

Im Gespräch mit Jolanda Spiess Hegglin

Hass, Diskriminierung und Gewalt sind im Internet ein grosses Problem. Lösungsansätze scheinen in weiter Ferne. Abzuwarten, bis sich politisch etwas bewegt, ist für Jolanda Spiess-Hegglin aber keine Option. Deshalb kämpft sie mit ihrem Verein dagegen an - auch mit Hilfe von Algorithmen und anderen technologischen Hilfsmitteln.


Mit Jolanda Spiess-Hegglin sprach Oliver Bosse

Jolanda Spiess, Sie haben mit Ihrem Verein #NetzCourage Hass, Diskriminierung und Rassismus im Internet den Kampf angesagt. Welche Ausmasse nehmen diese in der heutigen Gesellschaft an? 
Hass im Netz hatte man bis vor wenigen Jahren noch überhaupt nicht auf dem Radar. Mittlerweile wurde das Problem gesamtgesellschaftlich immerhin erkannt, aber Lösungen existieren nach wie vor keine. Unser Verein wurde praktisch aus dieser Not heraus gegründet – und wir sind immer noch die einzige Anlaufstelle für Cybergewalt in der Schweiz. Denn Opferhilfestellen haben zu wenig technische Kompetenzen und Expertise im Onlinebereich, um beispielsweise bei Vorfällen auf Social Media helfen zu können. Dabei spielen sich gerade dort extreme Fälle wie Cyberstalking ab. Die digitale und die reale Welt verschmelzen immer mehr, das ganze soziale Netzwerk befindet sich auf Social Media. Umso wichtiger wird unsere Arbeit.

Geschehen Cyber-Angriffe nicht oft aus der Anonymität des Internets heraus? Wie können Sie Betroffenen da überhaupt helfen?
Das stimmt. Wir können einerseits mit unserer Erfahrung zur Seite stehen, andererseits haben wir aber auch das nötige technische Knowhow, um die Täter zu ermitteln. Ich weiss persönlich, was es heisst, Opfer von Angriffen im Internet zu sein und wie sich das anfühlt. Das hilft mir, auf die Leute einzugehen und ihnen aufzuzeigen, wie man mit solchen Vorfällen umgehen kann. Wir haben aber auch die technischen Mittel, um praktisch dagegen vorzugehen, gerade in puncto Recherche, mit Rückwärtssuche und so weiter. Bei anonymem Cyberstalking ist die Chance sogar sehr gross, dass wir die Täter finden. Da helfen uns auch unsere Erfahrungswerte. Wir suchen nach Zusammenhängen und Merkmalen, gleichen diese ab und können die Täter so identifizieren. Wir konnten so schon Fälle für Nationalrätinnen aufklären, bei denen die Polizei nicht weitergekommen ist. Auch ist in der Schweiz diese „Szene“ von Hassakteuren nicht besonders gross und wir kennen sie. Wir sind unauffällig in den Gruppen unterwegs, in denen sie sich austauschen und dokumentieren die Vorgänge dort. Wichtig ist: Nur weil man vermeintlich anonym attackiert wird, heisst das nicht, dass man dagegen nichts tun kann.

Um der Problematik bestmöglich begegnen zu können, entwickelt #NetzCourage immer neue Ideen. Darunter sind auch solche mit technologischen Ansätzen. So haben Sie beispielsweise einen Roboter für Twitter mitentwickelt.
Mit dem Roboter ist es möglich, schnell und unkompliziert einen Protest-Tweet gegen ein Medium beziehungsweise einen Chefredaktor abzusetzen, wenn dieser unangemessene Ausdrücke verwendet. Das ist nicht nur originell, es bringt auch etwas. Diese Chefredaktoren kommen in Verlegenheit, wenn sie sich aufgrund dieses Programms einem kleinen Shitstorm ausgesetzt sehen.

Wichtig ist: Nur weil man vermeintlich anonym attackiert wird, heisst das nicht, dass man dagegen nichts tun kann.

Auch #NetzDataBase ist ein interessantes Projekt mit einem technologischen Ansatz. Worum geht es da?
#NetzDataBase ist eine wissenschaftliche Analyse im Auftrag der Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Bundes, bei welcher der Rassismus-Pegel im Internet gemessen wird. Grob gesagt werden dabei rassistische Kommentare gefiltert, woraus wir eine Netzwerkkarte erstellen können. Diese zeigt dann beispielsweise Verknüpfungen unter Parteien und/oder Einzelpersonen an. Diese Daten analysieren wir anschliessend. Eine Erkenntnis daraus ist, dass insbesondere bei den Wutbürgern, die viel Hass absondern, kaum Resonanz da ist, sie also kaum Antworten auf ihre Kommentare erhalten. In Planung ist eine solche Analyse auch in Bezug auf Frauenhass.

Braucht es gerade bei der Unzahl von Hass, Diskriminierung und Rassismus im Internet vermehrt technologische Möglichkeiten, um überhaupt dagegen anzukommen?
Unbedingt! Das stellen wir gerade in Bezug auf Opferhilfestellen oder auch die Polizei immer wieder fest, die in Sachen Social Media noch nicht fit genug sind, oftmals die Zusammenhänge nicht erkennen und deshalb bei solchen Vorfällen gar nicht in der Lage sind zu helfen. Um diesem Problem richtig begegnen zu können, braucht es Leute mit technischem Knowhow, die sich mit solchen Plattformen auskennen oder bestenfalls programmieren können. Leider fehlt aber oft die Finanzierung für solche Projekte beziehungsweise müssen sie auf privater Basis finanziert werden.

Eines Ihrer neusten Projekte hat besonders viel Aufmerksamkeit erregt: netzpigcock.ch.
Genau. Auf netzpigcock.ch lässt sich innert 60 Sekunden eine Anzeige generieren, wenn man ein Dickpic bekommen hat. Das erspart die Hürde und Scham eines Gangs auf den Polizeiposten.

Wie rege wird davon Gebrauch gemacht?
Nach dem Aufschalten der Seite wurden innerhalb eines Monats 1178 Anzeigen generiert. Und das sind nicht etwa Fälle, die sich über längere Zeit angestaut hatten, sondern aktuelle aus den letzten 3 Monaten! Wir speichern bewusst keine Daten, damit die Nutzer*innen auch bei einem möglichen Hackerangriff geschützt sind. Was wir aber sehen, ist, wie viele Anzeigen in welchen Kantonen generiert werden. Das ist sehr spannend. So gibt es beispielsweise viele in den Kantonen Zürich und Waadt.

Das ist eine erstaunliche Zahl. Auf Ihrer Website schreiben Sie, dass jede zweite Frau bereits Dickpics erhalten habe.
Ja, das hat eine Umfrage ergeben. Das ist Wahnsinn. Bisher war das ein Tabuthema, niemand hat darüber gesprochen. Jetzt wehrt man sich mit einer Anzeige dagegen, das ist super! Eigentlich müsste nun die Politik darauf reagieren…

Auf netzpigcock.ch lässt sich innert 60 Sekunden eine Anzeige generieren, wenn man ein Dickpic bekommen hat.

Führt eine Anzeige zum gewünschten Resultat, nicht mehr beleidigt oder belästigt zu werden?
Wenn der Täter identifiziert werden kann, ja. So ein Dickpic fällt unter den Pornografie-Strafartikel und wird in der Regel mit einem Strafbefehl geahndet. Das bedeutet für die Täter eine Busse und vor allem eine Vorstrafe. Vielleicht müssen sie sogar bei der Staatsanwaltschaft für eine Aussage erscheinen. Das zeigt in den meisten Fällen Wirkung und sie hören damit auf – oder sie deaktivieren sogar ihr Profil.

In den meisten Fällen? Haben Sie auch andere Erfahrungen gemacht?
Ich habe persönlich schon Anzeigen gemacht, die das Gegenteil bewirkt haben – nach denen sich Personen radikalisiert und eine Obsession entwickelt haben und mich seither stalken. Dort geht es allerdings um Personen, die effektiv ein psychisches Problem haben. Solche Personen bilden aber eine absolute Ausnahme. Im Normalfall sorgt eine Anzeige für die gewünschte Wirkung.

Sie sind in einer sehr exponierten Lage. Machen Sie öfter solche Erfahrungen?
Ja. Ich habe mehrere Stalker, die mir keine Ruhe lassen. Sie wissen beispielsweise immer, wann ich wo einen Auftritt habe und decken die Veranstalter mit Mails mit Verleumdungen über mich ein. Und ja, natürlich ist sowas mühsam. Mit einem Standard-Infomail an die Veranstalter, in welchem gleich alle Personen und Pseudonyme dieser Stalker aufgelistet sind, ist dies zu bewerkstelligen. Das sind Frauenhasser, die einfach nicht akzeptieren können, was ich mache und damit etwas bewirke.

Und da lässt sich nicht juristisch dagegen vorgehen?
Das Problem ist: Stalking an sich gibt es im Gesetz nicht. Bei Telefonterror kann man etwas machen, dies läuft im Gesetz unter „Missbrauch einer Fernmeldeanlage“. Aber bezüglich Internet gibt es viele Lücken. Wenn jemand auf seinem Profil oder in einer Kommentarspalte Dinge über mich schreibt, ist es unter Umständen schwierig, dagegen juristisch vorzugehen – vor allem wenn die Leute sich Mühe geben, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten. Ich dokumentiere jedoch trotzdem alles akribisch. Denn Fehler machen sie alle irgendwann. Die Rechnung folgt also früher oder später.

Wie gehen Sie damit um?
Inzwischen prallt das oft an mir ab. Aber manchmal ist es auch sehr belastend – und ich kam auch schon an den Punkt, an dem ich mich frage, wie lange ich das noch schaffe. Dabei geht es nicht mal um mich persönlich, sondern um mich als Frau, eine Frau, die laut ist und deshalb die Wut dieser Frauenhasser auf sich zieht. Ich bin entsprechend auch nicht die einzige Betroffene. Es gibt noch viele andere. Bei mir ist das Ausmass einfach extrem.

Hass im Internet ist also auch ein Gender-Thema?
Ganz klar. Das lässt sich nicht abstreiten. Damit will ich nicht sagen, dass Männer nicht auch mit solchen Problemen konfrontiert sein können. Aber bei Frauen haben sie ein ganz anderes Ausmass, eine andere Kraft. Männer werden in der Regel nicht einfach auf ihren Körper reduziert und auf dieser Ebene angegriffen. Ich spreche von beispielsweise Vergewaltigungsandrohungen, die ich zeitweise fast täglich erhalten habe. So etwas sind Männer kaum ausgesetzt. Das macht Angst und ist wohl für Männer nicht wirklich nachvollziehbar.

Damit will ich nicht sagen, dass Männer nicht auch mit solchen Problemen konfrontiert sein können. Aber bei Frauen haben sie ein ganz anderes Ausmass, eine andere Kraft.

Lassen sich Täter, die so etwas tun, überhaupt bekehren, stoppen?
Man müsste ihnen theoretisch das Internet wegnehmen und sie in eine psychiatrische Klinik einweisen – das wäre wohl der einzige Weg. Wir sprechen hier aber auch nicht von normalen Menschen, sondern wirklich von einem kleinen Prozentsatz von Psychopathen, die ihren Hass vorwiegend an Frauen in exponierten Positionen wie Politikerinnen und Feministinnen auslassen. Bei diesen müsste man ansetzen und abklären, ob ein Gefahrenpotential besteht. Ein Teil dieser Menschen sind sicher zu allem fähig.

Wäre es ein Lösungsansatz, die Betreiber von Plattformen mit Kommentarspalten oder von sozialen Netzwerken mehr in die Pflicht zu nehmen?
Das ist ein wichtiger Punkt. Nur geht es mit den Lösungsansätzen auf diesem Weg bislang sehr schleppend voran. Hier wäre die Politik in der Pflicht, das voranzutreiben – sprich oft weisse, ältere Herren, die diese Problematik gar nicht wahrnehmen und denen auch nicht bewusst ist, dass sie akut ist. Das ist ein Grundsatzproblem. Hinzu kommt, dass die Betreiber solcher Plattformen wie Facebook Stand heute gar nicht in die Pflicht genommen werden können. Ohne Sitz in der Schweiz gelten für sie auch die hiesigen Gesetze nicht.

Aber zumindest ein Stück weit ist das Problem also auch in der Politik angekommen?
Immer mehr. Aber leider gibt es immer noch Parteien, die sich bei dieser Thematik quer stellen. Man glaubt, Hass sei eine politische Sache. Aber Hass hat keine politische Färbung. Das haben einige Leute noch nicht verstanden. Deshalb werde ich dort nach wie vor bekämpft. Aber mittlerweile finden meine Anliegen über die Mitte hinaus Gehör und die Botschaft ist angekommen.

Welche nächsten Projekte sind bei #NetzCourage in der Pipeline?
Da gibt es einige aktuell: Das Projekt „#NetzHeldinnen“, bei dem wir Freiwillige suchen, die uns dabei unterstützen, Sicherung in versteckten Foren und Counterspeeches zu machen. Bei „#NetzBildung“ sind wir dabei, praxisnahe Unterrichtsmaterialien zu erstellen, die das Thema Hass interaktiv und niederschwellig behandeln und das Projekt „#NetzReport“, bei dem wir ähnlich wie bei netzpigcock.ch Betroffenen von Rassismus eine Hilfestellung bieten wollen, automatisiert und ohne mit ihrem eigenen Namen hinstehen zu müssen, eine Meldung zu machen.

Wie gehört bietet Ihr Verein in vielerlei Hinsicht Hilfestellung an und berät Opfer von Hass im Internet auch individuell. Haben Sie ganz grundsätzlich einen Ratschlag, wie von Hass, Diskriminierung oder Rassismus im Internet betroffene Menschen am besten damit umgehen und dagegen vorgehen können?
Die wichtigste Erkenntnis ist: Man darf es nicht persönlich nehmen. Meist ist man in diesem Moment einfach eine Projektionsfläche. Eigentlich haben die Täter selbst ein Problem, nämlich, dass sie hassen müssen. Wenn man es schafft, sich dieser Tatsache bewusst zu werden, kann man vieles schon abfedern und besser damit umgehen. Und dann rate ich, dass man den Vorfall sofort mit Screenshots festhält. Danach muss man für sich entscheiden, ob man besser damit abschliesst, in dem man sich etwas Zeit lässt und beispielsweise einen Spaziergang macht oder doch Counterspeech organisieren will oder sich Unterstützung sucht. Ich mache es öfter, dass ich für 24 Stunden einen Account einer betroffenen Person übernehme, ihn aufräume, Personen blockiere und dann wieder zurückgebe. Denn dies selbst zu machen, kann retraumatisierend wirken.

Zur Person

Jolanda Spiess-Hegglin ist Journalistin und ehemalige Politikerin. Für die Grünen sass sie von 2014 bis 2016 im Kantonsrat des Kantons Zug. Durch einen Vorfall im Jahr 2014 wurde sie landesweit bekannt und gelangte auf unschöne Art in den Fokus der Medien. Gegen diese Berichterstattung geht sie teilweise bis heute gerichtlich vor. Seither ist Jolanda Spiess-Hegglin als Netzaktivistin aktiv und kämpft auch für andere, denen Unrecht widerfährt. Mit ihrem Verein #NetzCourage geht sie mit immer neuen Ideen und Projekten gegen Hass, Diskriminierung und Gewalt im Internet vor. 2021 wurde sie dafür mit dem mit dem Ida Somazzi-Preis geehrt.

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