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"Kreativität und Intelligenz multipliziert ergibt Technologie"

Was macht die Corona-Krise mit uns als Menschen? Und was davon werden wir beibehalten, wenn alles ausgestanden ist? Ana Campos hat beim renommierten Zukunftsforscher Georges T. Roos nachgefragt (das Gespräch fand im April 2020 statt).
Mit Georges T. Roos sprach Ana Campos
Was für Chancen bietet die aktuelle Situation als neue «Realität» für uns alle?
Unsere Schulen, Amtsstellen und auch die Unternehmen lernen in ungeheurer Geschwindigkeit, wie die Digitalisierung nutzbringend angewandt werden kann. Ich denke, dass auch nach der akuten Phase der Krise von der Sekundarstufe aufwärts «Blended Learning» viel häufiger eingesetzt wird. Unternehmen erkennen die Vorteile der teilweisen Entflechtung der Arbeit von Ort und Zeit. Unsere Gesellschaft wird erkennen, welche Dinge online viel einfacher erledigt werden können.
Wie wird die «Welt nach Corona» in Ihren Augen aussehen?
Es wird eine längere Zeit brauchen, bis wir wieder «back to normal» sein werden. Besonders verletzliche Personen werden noch über längere Zeit auch besonders geschützt werden müssen. Die gesunde Bevölkerung wird sich häufig testen lassen. Wie tief die wirtschaftliche Krise sein wird, ist noch offen und hängt sehr stark von der weiteren Entwicklung ab. Auf der positiven Seite ist anzumerken, dass viele Initiativen und Innovationen, die während der Krise angepackt wurden, in der Zeit nach Corona bleiben werden: Kleiderboutiquen, die einen Online-Shop aus der Not aufgestellt haben, haben die Chance, ihren Kundenstamm zu erweitern; Yoga-Lehrerinnen haben gelernt, Lektionen auf Video aufzuzeichnen und als Übung für Zuhause zur Verfügung zu stellen.
Ihr Kollege Matthias Horx meint, dass spätestens jetzt die Vorstellung von Technologie als Allheilmittel vorbei sei. Dass Fragen wichtiger werden wie: Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander? – Was sagen Sie dazu? Und was würden Sie auf diese beiden Fragen antworten?
Die Corona-Krise hat uns alle schlagartig in Erinnerung gerufen, wie verletzbar wir Menschen trotz Spitzenmedizin und funktionierenden Institutionen letztlich doch sind. Weil bei uns schon lange alles einwandfrei läuft, haben wir das immer auch Prekäre des Lebens nicht mehr auf dem Radar gehabt. Das alleine wird schon dazu führen, dass wir mehr als zuvor wertschätzen, was wir haben. Dazu gehören unsere Beziehungen zu Familien, Freundinnen und Freunden, zu den Menschen im Büro, Fitness-Center und Jodelklub. Der Mensch ist ein soziales Wesen: Ohne enge und auch körperliche Nähe zu anderen Menschen verkümmert er. Die augenblickliche Isolation ist also wie eine soziale Diät: Umso mehr freuen wir uns wieder auf ein üppiges Essen. Ich bin aber auch Realist: Die Welt wird nicht einfach eine bessere, wenn sie die Corona-Krise durchgestanden hat. Die aktuelle Krise bringt wieder ans Tageslicht, warum der Mensch im evolutionären Sinn so erfolgreich ist: Er ist kreativ, intelligent und anpassungsfähig. Wenn man Kreativität und Intelligenz miteinander multipliziert, ergibt es "Technologie". Sie wird auch nach Corona essentiell für unser Leben sein.
Was ist Ihre persönliche "Erkenntnis»" der letzten Tage und Wochen?
Ich verstehe besser, wie schwierig es sein kann, einer kollektiven Hysterie zu widerstehen. Schnell kommt vieles zusammen: Liebe Menschen, die spürbar Angst haben; Schlagzeilen im Minutentakt, die schlimme Aspekte herausposaunen; Gerüchte und Mutmassungen; Hamsterkäufe. Hier einen ruhigen Kopf zu bewahren, verlangt eine willentliche Anstrengung. Es ist absolut zentral, dass die Behörden in solchen Situationen vertrauenswürdig agieren und kommunizieren, was sie glücklicherweise auch tun.
Für all diejenigen, die nun permanent daheim sind: Haben Sie einen Buch-Tipp passend zur jetzigen Situation?
Wer es noch nicht gelesen hat: Juval Noah Harari: "Eine kurze Geschichte der Menschheit". Er gibt uns das grosse Bild, indem er zeigt, welche Krisen und Veränderungen die Menschheit bereits durchgestanden hat.
Zur Person
Georges T. Roos (* 1963 in Basel) gehört zu den führenden Zukunftsforschern im deutschsprachigen Raum. Während und nach dem Studium in Pädagogik, Publizistik und Psychologie an der Universität Zürich war er als Journalist tätig, zuletzt in der Redaktionsleitung einer Schweizer Tageszeitung. Ab 1997 war er Mitglied der Geschäftsleitung des Gottlieb Duttweiler Instituts, bis er sich im Jahr 2000 mit seinem eigenen Institut selbständig machte. Georges T. Roos ist Vater zweier erwachsener Kinder und lebt heute in Luzern.