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"Unterdrückung ist ein System mit mehreren Säulen"

Die französische Star-Politologin Emilia Roig gehört zu den wichtigsten Stimmen in der Anti-Diskriminierungs-Debatte. Ihr Buch «Why We Matter» hat unmittelbar nach Erscheinen im Februar 2021 sämtliche grossen Bestsellerlisten gestürmt. Ana Campos hat anlässlich des internationalen Frauentags mit Emilia Roig gesprochen – über die Illusion des Fortschritts, den männlichen Körper als Referenzpunkt und darüber, was Unternehmen konkret tun können, um Unterdrückung zu bekämpfen.
Mit Emilia Roig sprach Ana Campos
Frau Dr. Roig, im März war der Internationale Frauentag. Wo stehen wir in Sachen Gleichberechtigung?
Wir haben sicherlich Fortschritte gemacht. Es ist aber eine Illusion zu glauben, wir hätten Misogynie überwunden. In Zusammenhang mit Frauen wird oft über Gewalt gesprochen. Man hat fast ein wenig das Gefühl: Solange es keine physische Gewalt gegenüber Frauen gibt, ist das alles nicht so schlimm. Tatsächlich gibt es aber keinen Bereich, in dem Frauen nicht benachteiligt wären.
Können Sie Beispiele machen?
Auf dem Arbeitsmarkt gibt es immer noch eine sehr grosse Gehaltslücke. In der Politik sind Frauen stark unterrepräsentiert. In der Medizin basiert die Forschung immer noch auf dem männlichen Körper als Referenzpunkt. Auch in der Film- und Medienbranche ist die Perspektive, die als objektiv gültig dargelegt wird, die männliche Perspektive. Es gibt im Prinzip keinen einzigen Bereich, in dem man von Gleichberechtigung sprechen könnte.
Sie reden in Ihrem Buch von der «Falle des Individualismus»: So würden wir Diskriminierung häufig sehr einseitig betrachten und uns auf einzelne Gruppen beschränken, im vorliegenden Fall eben auf Männer und Frauen. Was gäbe es für alternative Herangehensweisen, um Unterdrückung als Gesamtes zu bekämpfen?
Unterdrückung als Gesamtes muss als System verstanden werden, das mehrere Säulen umfasst. Diese Säulen wiederum sind die unterschiedlichen Unterdrückungssysteme: der Kapitalismus, das Patriarchat und der Rassismus im Sinne der weissen Vorherrschaft. Jedes dieser Systeme hat wiederum Subsysteme, die als Mischung all dieser Systeme existieren. Die verschiedenen Systeme müssen zwingend gemeinsam bekämpft resp. Alternativen dafür gesucht werden. Konzentriert man sich auf ein einzelnes System, wachsen die anderen, denn sie verstärken und nähren sich gegenseitig.
Tatsächlich gibt es aber keinen Bereich, in dem Frauen nicht benachteiligt wären.
Inwiefern?
Man kann sich als Bild einen Beutel mit 3 Löchern vorstellen, aus dem Wasser fliesst. Wenn wir nun ein Loch schliessen, fliesst automatisch mehr Wasser aus den anderen beiden. Das Problem wird so nicht gelöst. In Bezug auf Frauen ist es sehr wichtig, zuerst einmal die Kategorie «Frau» zu dekonstruieren. Dass wir die Menschheit in zwei rigide Geschlechter aufteilen, ist nämlich das Grundproblem: Denn damit wird eine Hierarchie aufrechterhalten, die das bestehende Machtverhältnis zementiert. Die Systeme gemeinsam zu betrachten, bedeutet dann, auch innerhalb der Kategorie Frau die unterschiedlichen Merkmale in den Blick zu nehmen, die zu unterschiedlichen Formen der Diskriminierung führen, z.B. Hautfarbe, ethnische Herkunft, soziale Klasse, Behinderung, sexuelle Orientierung, Geschlechteridentität etc.
Sie reden in Ihrem Buch vom «Verlernen». Verlernen von etablierten Strukturen und Mustern als Voraussetzung dafür, das bestehende Fundament der Unterdrückung überhaupt erst auflösen zu können.
Genau. Das Aufzeigen der Muster ist der erste Schritt, sie dann zu verlernen der zweite und auch wesentliche Schritt, der sehr lange dauert und auch sehr schwierig ist. Denn wir haben uns die «Realität» verinnerlicht als objektiv und neutral. Wenn wir diese erst einmal infrage stellen würden – und mit «wir» meine ich nicht die wenigen Menschen, die sich dessen bewusst sind und gewissermassen ausserhalb der Matrix leben –, kämen wir viel weiter. Dann könnten wir neue Möglichkeiten entwerfen, wie unsere Gesellschaft aussehen und unsere Institutionen funktionieren sollen.
Sie reden in diesem Zusammenhang auch von einer Revolution, die notwendig ist.
Ja, dieser Prozess verlangt nach einer tiefgreifenden Transformation. Denn viele unserer Institutionen würden wir zuerst einmal abschaffen. Nehmen wir als Beispiel die steuerrechtlichen Massnahmen in den meisten europäischen Ländern: Sie basieren auf dem sehr patriarchalen Modell des Haupternährers und der Frau, die zuhause bleibt oder nur Teilzeit arbeitet. Wenn wir erst einmal anerkennen, dass Systeme wie dieses zu Diskriminierungen führen, würden wir sie abschaffen und neue Systeme entwerfen.
In Bezug auf Frauen ist es sehr wichtig, zuerst einmal die Kategorie «Frau» zu dekonstruieren. Dass wir die Menschheit in zwei rigide Geschlechter aufteilen, ist nämlich das Grundproblem.
Was können Unternehmen leisten, um das oben erwähnte Fundament der Unterdrückung aufzuweichen, auch wenn sie natürlich per se kapitalistisch funktionieren?
Klar, Unternehmen funktionieren kapitalistisch, aber sie funktionieren auch patriarchal und rassistisch – dies anzuerkennen ist wichtig. Unternehmen sollten sich in einem ersten Schritt bewusst werden, dass sie althergebrachte Hierarchien aufrechterhalten und perpetuieren – zumindest, wenn sie meritokratisch funktionieren.
Was wäre der nächste Schritt?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie Unternehmen einen Beitrag leisten können. Zum Beispiel, indem sie bessere Zugänge schaffen für Menschen, die bislang benachteiligt und ausgeschlossen wurden. Oder indem sie Definitionen davon, was als «professionell», «kompetent» oder «produktiv» gilt, neu denken – und Abschied davon nehmen, den Wert eines Menschen entlang des Geschlechts, der sozialen Klasse, der Hautfarbe etc. zu bemessen. Indem sie neue Kriterien für Einstellungsprozesse, Beförderungen etc. festlegen – also für all jene Systeme und Massstäbe, die benutzt werden, um zu definieren, was eine*n gute*n Arbeitnehmer*in ausmacht. Es gibt z.B. Unternehmen, die sagen: Ok, wenn eine Frau aus der Elternzeit zurückkommt, erhält sie Punkte oder wird automatisch befördert, denn durch diese Erfahrung hat sie wichtige Skills gelernt, die sie im Job nicht lernen würde.
Als etwas vom Wichtigsten erachte ich, die 40-Stunden-Arbeitswoche infrage zu stellen. Denn viele unserer Jobs und Tätigkeiten können in weniger Zeit erledigt werden. Wir wären alle weniger gestresst und hätten auch die Möglichkeit, nicht entlöhnte Arbeit zu würdigen und ihr einen entsprechenden Platz in der Gesellschaft einzuräumen. Natürlich sind genau die 40 Stunden ein Mittel, um das bestehende System aufrechtzuerhalten. Genau diese Freizeit, die mit weniger Arbeit einhergehen würde, wäre existenziell bedrohlich für das System – neben dem Umstand, dass Menschen den Grossteil ihrer Lebenszeit plötzlich nicht mehr für jemand anderen und für «Geld» investieren würden. Das würde vieles infrage stellen.
Sie haben sehr viel erreicht. Was sind Ihre nächsten Pläne?
Als NGO sind wir bis zu einem gewissen Grad abhängig von externen Fundings. Sie bestimmen mit, was wir tun können oder eben nicht. Im Moment verbringen wir viel Zeit mit der Messung von Impact, mit Monitoring und Evaluierung. Das ist wohl auch ein Weg, um die Zivilgesellschaft zu kontrollieren: Indem man sie in Rahmenbedingungen «festhält», kann sie sich nicht frei bewegen und auch nicht so schnell auf soziale Veränderungen reagieren. So oder so: Wir haben sehr viel vor und werden unsere Arbeit weiterführen.
Zur Person
Emilia Zenzile Roig (*1983) ist eine französische Politikwissenschaftlerin, Aktivistin und Gründerin des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin. Im Februar 2021 erschien ihr erstes Buch unter dem Titel „Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung“. Darin beschreibt sie unter anderem anhand ihrer Familiengeschichte, wie Machthierarchien und Systeme der Unterdrückung erkannt und bekämpft werden können.