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«Eine KI kann nicht so kreativ und verrückt sein wie wir Menschen»

Psychologe und Bestseller-Autor Allan Guggenbühl spricht in seinem «Sparx»-Talk darüber, was Technologie mit uns Menschen macht. Im Interview geht er noch detaillierter auf einige Punkte ein und erklärt unter anderem, weshalb es eher unwahrscheinlich ist, dass wir Schweizer*innen eines Tages virtuelle "Persönlichkeiten" heiraten werden.
Mit Allan Guggenbühl sprach Oliver Bosse
Die meisten Menschen würden wohl argumentieren, dass der technologische Fortschritt unser Leben effizienter und einfacher macht. Sie sagen, wir haben durch ihn auch viele Kompetenzen abgegeben. Können Sie mir Beispiele nennen, die dies verdeutlichen?
Kompetenzen erlangen wir durch Auseinandersetzungen in einem sozialen Kontext. Sowohl die Natur als auch die Gesellschaft konfrontieren uns mit Problemen und Herausforderungen, die wir meistern müssen. Wenn Technologie uns dies abnimmt, erlangen wir im Umkehrschluss auch diese Kompetenz nicht. Ein gutes Beispiel dafür habe ich kürzlich in einem Buch gelesen: Im 16. Jahrhundert war ein portugiesischer Seefahrer auf der Magellanstrasse zu einer kleinen Insel im Pazifik unterwegs. Um sein Ziel zu erreichen, verliess er sich auf Sextant und Kompass, die aber plötzlich unauffindbar waren. Verloren in den unendlichen Weiten des Ozeans, wusste er nicht mehr weiter. Glücklicherweise gab es an Bord einen Mann, der von einer mikronesischen Insel stammte. Er konnte die Crew ohne Hilfsmittel zur Insel navigieren. Wie ihm das gelang, konnte er selbst nicht formulieren. Seine Fähigkeit gehörte zu den Kompetenzen der Mikronesier – sie konnten das Meer, die Strömungen lesen und orientierten sich so in den Weiten des Pazifiks. Es gibt auch aktuellere Beispiele wie Piloten, die früher verstanden, die Wolken zu lesen und so vorauszusagen, wann es regnet. Oder es gab früher Leute, die konnten aus dem Gedächtnis exakt den Fussweg von Zürich nach Winterthur beschreiben – ohne Karte oder Notizen.
Wie macht sich diese Abgabe von Kompetenzen heute bemerkbar – ist sie problematisch?
Solange es sich um eingeplante und unproblematische Leistungen handelt, gibt es in der Regel kein Problem. Es stört uns nicht, dank einer Stimme von Google Maps von A nach B geführt zu werden. Ich beobachte allerdings, dass die Abgabe von Kompetenzen an die Technologie problematisch wird, wenn es um Entscheidungen geht, bei denen man über sich nachdenken und seine Persönlichkeit miteinbeziehen sollte. Bei der Berufsfindung von Jugendlichen kann man sich nicht auf Algorithmen und Tests verlassen, sondern muss über sich selber nachdenken und eine Entscheidung fällen können. Autonome Entscheide zu treffen, fällt jedoch vielen schwer. Deutlich vor Augen führt uns das auch Netflix. Wir bekommen quasi vorgesetzt, was wir uns als nächstes anschauen sollen. Aber vielleicht würden wir ganz andere spannende Kategorien und Serien für uns entdecken, wenn wir selbst auf die Suche gingen. Wir wollen nicht immer unseren Gewohnheiten folgen, sondern suchen auch das Neue. Nur so können wir uns weiterentwickeln.
Was sind die Folgen?
Interessant ist, dass technische Entwicklungen, die unser Leben bequemer und einfacher machen, Gegenreaktionen auslösen. Um hier ein Beispiel zu nennen: Früher bewegten sich die Menschen viel mehr. Auch weite Distanzen legte man zu Fuss zurück. Noch bis Mitte des 19. Jahrhunderts war die Stadt Zürich voller Fussgänger. Man nimmt an, dass ein Viertel der Fussgänger rannte. Es handelte sich um Boten, die Nachrichten von A nach B bringen mussten, Dienstpersonal oder eilige Leute. Dann kamen Kutschen und später Autos. Das Rennen hatte sich erübrigt. Und was sieht man heute? Es wird wieder gerannt. Überall sieht man Jogger, die im Namen der Gesundheit herumrennen. Sich zu bewegen scheint also ein Bedürfnis zu sein, das nun auf andere Weise wieder zurück in unserem Alltag ist.
Neue Technologien faszinieren, doch gleichzeitig lösen sie Ängste aus, man weiss nicht, was auf einen zukommt und mit welchen gesellschaftlichen Veränderungen man rechnen muss.
Ist Technologie in der Lage, unser Wesen nachhaltig zu verändern?
Neue Technologien faszinieren, doch gleichzeitig lösen sie Ängste aus, man weiss nicht, was auf einen zukommt und mit welchen gesellschaftlichen Veränderungen man rechnen muss. Bei der Erfindung des Telefons fürchteten einige, dass es zu anarchischen Zuständen kommt. Man konnte ja jetzt von Leuten kontaktiert werden, die man nicht kannte, die amoralische Angebote machen und die einem nicht offiziell vorgestellt wurden! Die Ängste haben sich verflüchtigt. Auch beim Thema Internet gibt es heute Stimmen, die vor einer Verwilderung der Kommunikationsformen warnen. Mit der Zeit entwickeln sich jedoch Umgangsformen, die neue Technologien akzeptabel machen und das Leben erleichtern, ohne uns jedoch kompetenter zu machen.
Und wie sehen Sie das bei den aktuellen Entwicklungen?
Die Auswirkungen von Innovationen werden oft überschätzt. Als die Enzyklopädien kamen, war die Rede davon, dass man jetzt die Schulen abschaffen könne. Die Schüler konnten nun selber Fragen beantworten, das Wissen war ja zugänglich. Neue Technologien lösen Erwartungen aus, die meist nur zum Teil erfüllt werden. Als die Eisenbahn gebaut wurde, glaubte man, dass es nie mehr Kriege geben wird, da die Völker sich nun gegenseitig besuchen konnten. Leider ist das Gegenteil eingetroffen. So ist es auch bei der künstlichen Intelligenz. Die Erwartungen sind gross, doch erst die Zeit wird zeigen, was sie der Gesellschaft bringt.
In Ihrem «Sparx»-Talk geht es um das Thema künstliche Intelligenz. Sie sehen dort eine Grenze der technologischen Möglichkeiten erreicht: Nämlich bei unserem Bewusstsein, das zu dynamisch und komplex funktioniert, als dass KI in der Lage wäre, es effektiv zu durchschauen. Halten Sie das tatsächlich für unmöglich oder einfach mit dem heutigen Stand der Technik noch nicht machbar?
Was in Zukunft alles möglich ist, kann ich nicht beurteilen. Was ich sagen kann, ist, dass KI Schlussfolgerungen aus Informationen und Daten zieht, die schon da sind. Ereignisse und Leistungen werden quantifiziert und anschliessend wiedergegeben. So kann künstliche Intelligenz zwar Musik nachmachen, die klingt wie von Mozart, doch einen grundsätzlich neuen Musikstil erschaffen kann sie nicht. Sie ist nicht in der Lage, zu interpretieren, neue Wege einzuschlagen, so kreativ und verrückt zu sein wie wir Menschen.
Teilen Sie gewisse Bedenken bezüglich neuer Technologien?
Ich sehe Probleme nicht bei der Technologie an sich, sondern beim Umgang mit ihr. Wir drohen zu viel Zeit vor Bildschirmen, am Handy zu verbringen. Die Gefahr ist, dass dadurch vielen Menschen der persönliche, physische Kontakt zu Mitmenschen fehlt. Wir alle brauchen jedoch Begegnungen mit anderen Menschen, im privaten wie auch öffentlichen Rahmen, damit wir uns wohlfühlen, uns selber kennenlernen und Kontakte knüpfen können. Wenn wir uns vor allem in virtuellen Räumen bewegen, kann dies zu psychischen Problemen wie Depressionen führen. Auch gilt es aus meiner Sicht im Auge zu behalten, was mit unseren persönlichen Daten geschieht. In unseren Profilen, beispielsweise auf Sozialen Medien, präsentieren wir uns in bestimmten Rollen, konstruieren uns ein Image, so wie wir gesehen werden wollen. Viele verraten auch private Dinge oder machen unüberlegte Äusserungen. Nicht realisiert wird, dass der virtuelle Raum nicht geschützt ist. Alles, was wir dort deponieren, kann gegen uns verwendet werden. Dies kann fatale Folgen haben, denn jeder Mensch hat Geheimnisse, die er nicht preisgeben sollte. Sind sie jedoch im Internet, kann das zu öffentlichen Verurteilungen führen.
Quelle: Trivadis
Wieso?
Weil wir dann plötzlich alle, oder viele von uns, problematisiert werden. Wir werden angreifbar. Wir brauchen unsere Privatsphäre, in der wir unangebrachte Äusserungen machen können, auch rohe Gefühle äussern. Es macht keinen Sinn, wenn die Öffentlichkeit davon erfährt, da es sich um Dekompensationen handelt. Man lässt Luft ab, damit man sich wieder benehmen oder anpassen kann. Sie sollten geheim bleiben, auch damit die Gesellschaft funktionieren kann und die Menschen miteinander auskommen.
Sie sagen auch, dass es ein Trugschluss sein könnte, zu glauben, wir seien früheren Generationen weit überlegen, wüssten es heute besser. Die konstante Evolution sei ein Mythos. Wie meinen Sie das?
Materiell und technologisch sind wir heute früheren Generationen voraus. Aber die Technologie ist nicht das einzige Kriterium der Evolution. Es stellt sich auch die Frage, ob wir als Menschen mehr Fähigkeiten entwickelt haben, gescheiter und kompetenter wurden. Mir scheint, es ist ein Irrglaube, dass wir als Menschen unseren Ahnen und Urahnen überlegen sind. Die Technologie macht uns nicht zu besseren Menschen, sondern wahrscheinlich sogar im Gegenteil. Man geht heute in der Anthropologie davon aus, dass der Mensch durch die Urbanisierung egoistischer und asozialer wurde. Er begann, die Hilfe an Mitmenschen an Institutionen zu delegieren und kümmerte sich vor allem um sich selber. Heute tragen die meisten Menschen im öffentlichen Raum Ohrstöpsel, ignorieren, was um sie herum geschieht, werden zu Zombies. Ist das ein Fortschritt?
Gibt es für Sie persönlich eine Grenze, die mit Technologie nicht überschritten werden sollte?
Ich finde es wertvoll, dass mit der intelligenten Nutzung von Daten oder auch KI eine aufschlussreiche Informationsbasis gelegt werden kann, die uns hilft, bessere Entscheidungen treffen zu können. Wir sollen diese Daten konsultieren können, aber die Interpretationshoheit und Entscheidungsmacht muss auch in Zukunft bei uns Menschen liegen. Es sollen zum Beispiel nicht Algorithmen über die Zuweisung der Kinder zu Schulhäusern entscheiden, wie das heute vorgeschlagen wird, sondern der Entscheid muss bei denkenden Menschen liegen, denn Algorithmen basieren zum Teil auf Vorurteilen und ausserdem gibt es immer Faktoren, die man noch nicht erkannt hat. Die Entscheidungsgewalt muss bei uns denkenden Menschen mit unseren wichtigen Kompetenzen wie Fantasie, Empathie und unserem Sinn für das Ausserordentliche bleiben.
In Japan gibt es bereits Menschen, die Beziehungen mit virtuellen „Persönlichkeiten“ haben und diese sogar heiraten. Ist das Ihrer Meinung nach eine Ausnahmeerscheinung oder gar der Anfang einer neuen Entwicklung?
In ähnlicher Form gibt es dies auch bei uns. Kleine Kinder sehen in ihren Teddybären oder anderen Stofffiguren einen Freund, sprechen zu ihm. Man spricht von Animismus. Bei Erwachsenen kommt die Belebung von an sich toten Objekten auch vor, eine grosse Zahl von Mountainbikefahrern stellt ihr Bike ins Schlafzimmer, neben ihr Bett, sodass sie immer in Kontakt mit ihrem Gefährt sind. Wir sind fähig, Dinge zu beleben. Dies ist keine abnormale Entwicklung. Aber natürlich: Auch wenn wir Objekte beleben, können sie Beziehungen nicht ersetzen. Beziehungen leben von Auseinandersetzungen, von Überraschungen und sind nicht nur da, um unsere Wünsche zu befriedigen. Auf das Beispiel aus Japan bezogen lässt sich sagen, dass auch die Kultur eine Rolle spielt, dass man in diesem Kontext dann auch noch heiratet. Dass dies auch bei uns einst diese Formen annimmt, glaube ich nicht.
Im Internet kursieren auch Deepfakes. Sie machen uns beispielsweise vor, dass ein Prominenter zu uns spricht, tatsächlich ist sein Bild aber durch Software generiert. Spielt es für uns überhaupt eine Rolle, ob ein Computer oder ein Mensch uns etwas erzählt?
Meiner Meinung nach ist in gewissen Kontexten Authentizität sehr wichtig. Deepfakes sind Täuschungen. Wenn es sich jedoch um Prominente handelt, dann sind sie schon vorher Projektionsträger von eigenen Wünschen oder Aggressionen. Wir haben mental von ihnen Besitz genommen und mit Eigenschaften versehen. In einem gewissen Sinne sind sie für uns bereits ein Fake. Die Deepfakes korrigieren dann vielleicht unsere Projektionen. Wenn es sich um Politiker oder sonst gesellschaftlich relevante Figuren handelt, dann stellt sich natürlich die Frage der bewussten Manipulation. Ich denke, wir müssen eine neue Beurteilungsfähigkeit entwickeln, um in der Lage zu sein, solche Deepfakes zu erkennen. Einen solchen Prozess hat das Lesen gemacht. Anscheinend hat man bei der Verbreitung der Schrift geglaubt, dass alles, was geschrieben wurde, wahr ist. Wir haben umgedacht. Nun müssen wir auch vermehrt Bilder hinterfragen.
Was wünschen Sie sich in Sachen Technologie und im Umgang damit für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass die Menschen Technologie gegenüber eine wohlwollende, aber auch kritische Haltung einnehmen. Technologie ermöglicht vieles und eröffnet uns Chancen. Wir müssen aber immer auch die Risiken im Auge behalten – und vor allem darf der Faktor Mensch nicht vergessen werden. Menschen haben einen Eigenwillen, verhalten sich nicht genau so, wie wir denken. Ich mache die besten Resultate auch nicht nur mit Fragebögen, sondern indem ich mit den Menschen direkt spreche, wenn es auch mal chaotisch ist und nicht alles nach definierten Regeln abläuft.
Zur Sparx-Episode mit Allan Guggenbühl
Zur Person
Allan Guggenbühl (* 1952) ist der bekannteste Psychologe im deutschsprachigen Raum und Bestseller-Autor. Zu seinen wichtigsten Publikationen gehören „Das Schreckliche – Mythologische Betrachtungen zum Abgründigen im Menschen“ und „Die unheimliche Faszination der Gewalt“. Für eine Flasche Wein hat Allan in den 80er-Jahren angefangen, schwierige Jugendliche zu therapieren. Seither ist er da nicht mehr rausgekommen. Wenn Allan Zeit hat (was im Prinzip nie der Fall ist), spielt er Gitarre, geht biken oder studiert Inseln.